von H. P. Daniels (tip 7/96, S. 134-136)
Da Bob Dylan dieses Jahr nicht nach Berlin kommt, fuhr der TIP nach Prag, um ihn und seine Fans dort unter die Lupe zu nehmen
Frau Anders ist Dylan-Fan. Herr und Frau Steebe noch mehr ... aber der größte Dylan-Fan ist Stephi. Einmal in der Woche treffen wir uns, sehen uns Dylan-Videos an und spielen auf unseren Gitarren Songs von Bob Dylan. Und wir beschlossen, nach Prag zu fahren: zu drei Dylan-Konzerten.
Der erste Tag:
Wir fahren mit dem Zug. Stephi hört auf dem Walkman ein paar Dylan-Konzerte der letzten Jahre... Herr Steebe liest den "Telegraph", die Dylan-Fan-Zeitung aus England. Frau Anders die "taz". und ich sehe aus dem Fenster. Irgendwann sagt Herr Steebe: "Wenn Dylan heute abend 'Jokerman' als erstes Stück spielt, reise ich sofort wieder ab," Frau Anders erzählt von dem "Mann mit der Feder am Hut": "Seit 78 hat der kein Dylan-Konzert in Europa versäumt und sitzt immer in der ersten Reihe. 'Lambchop', heißt der." ... "Wie? Wie Lammkotelett? Oder wie Lampenladen: 'Lamp Shop'?" ... und daß über den mal ein Artikel im "Guardian" gestanden habe.
Dann Prag: Wir gehen ins "Cesca Hospoda", ein angenehmes Restaurant in der Nähe des Wenzelplatzes: zu Schweinebraten. Knödeln, Sauerkraut und Pivo -- tschechisches Bier wird fast überall in echten Halben serviert ... und im Willibecher. Unser Reiseleiter zückt Papier und Stift: Jeder soll aufschreiben. welchen Song Dylan am Anfang spielt. Ich schreibe "Jokerman", und Herr Steebe rollt mit den Augen: "Bloß nicht!"
Mit der U-Bahn fahren wir zum "Palace Kultury". Stephi saust mit der Eintrittskarte von Frau Steebe rum. die erst morgen nachkommt: "Ticket for Bob Dylan anyone?" Keiner will. Komisch. Nach einer halben Stunde erfahren wir. daß das Konzert abgesagt ist. Jemand sagt, Dylan habe eine Angina ... Frau Anders erfährt, Dylan habe ein Fax geschickt: Due to minor indisposition ... etc. – "Watt haste da jerade jesacht? Kannste ditt ' nochma wiedaholn?" Einer mit dicker Brille, der aussieht wie Robert Crumb, fragt. ... "So 'ne Scheiße", da sei er extra herjekomm aus Berlin ... und wat nu?
Wir fahren zurück ins Zentrum und gehen in den ."Metropolitan Jazzclub". Da gibt es "Live Music... rich Choice of Drinks" und, was ich am interessantesten finde: "Cold Cooking" (?). Ganz nett im "Metropolitan Jazzclub", aber man sitzt da auf Bänken mit extrem kurzen Beinen, was ich nicht so gut finde nach. dem vielen Sauerkraut. Bequemer sitzt man im Bierlokal "Thomase": an einem unglaublich langen Tisch. Mit einer Gruppe italienischer Schüler, die auf Gitarren rumschrammeln und singen: Smells like teenage Spirit... Doch, Nirvana findet er auch ganz gut, sagt Stephi, und er redet ein bißchen über Musik, die er sonst noch mag: Graham Parker, Elvis Costello ... und Herr Steebe mag Townes Van Zandt und Lyle Lovett ... aber dann sind wir ganz schnell wieder bei Dylan: ob der wohl ernsthaft krank sei und ob das Konzert morgen tatsächlich stattfindet?
Der zweite Tag:
Beim Frühstück im Hotel gibt es gelegentlich Verrorgungsengpässe. die an vergangene realsozialistische Zeiten gemahnen: Ist gerade mal Kaffee da, ist die Milch alle ... gibt es wieder Milch, ist der Kaffee alle ... gibt es Milch und Kaffee, sind keine Brötchen mehr da ... sind wieder Brötchen nachgelegt, ist der Käse weg ... und die Aprikosen-marmelade schmeckt nach Fisch. Und plötzlich redet die Gruppe Steebe nur noch in Dylan Zitaten ... so in der Art: Frage mich, ob das Konzert heute...? "Sooner or later one of us must know" ... und Herr Steebe holt sich "One more Cup of Coffee before we go".
Wir gehen in die Stadt. Die Herren Steebe und Stephi rennen sofort in die Plattenläden: schauen, ob Dylan-Unplugged schon da ist. Da stehen auch schon die anderen Experten aus Deutschland rum und befingern, drehen und wenden sämtliche Dylan-Bootlegs ... kennste die? und kennste die? oder die? Aber Unplugged is nich ... also wollen die Herren Steebe und Stephi erstmal was essen und Pivo ... und dann ins Hotel: 'ne Runde schlafen ... fit sein fürs Konzert. Prag kennen sie schon vom letzten Mal. Mit Frau Anders sehe ich mir die Stadt an: Jazzmusiker auf der Karlsbrücke ...einen Wochen-markt, den Altstadtring, das alte Rathaus, die Barockkirche St. Niklas, den Hradschin etc. Und an jeder zweiten Ecke kauft sich Frau Anders ein Eis, das hier "Smrlzna" heißt oder so ähnlich. Frau Anders ist sehr sprachbegabt und überall sagt sie auf Tschechisch "Guten Tag" ... "Bitte" und "Danke" ... was ich auch gern könnte. Einmal fragt Frau Anders einen Kellner etwas auf Italienisch ... der hört ihr zu, versteht und beantwortet die Frage auf Englisch. Vermutlich hätte er auch Deutsch gekonnt ... aber Deutsch spricht Frau Anders hier nur ungern: ist einem irgendwie immer noch unangenehm, Deutscher zu sein.
Abends wieder zum "Kulturpalast," "Hey, schau mal ... da ist ja 'Lambchop', der Mann mit der Feder am Hut" ... und ich finde, daß der tatsächlich aussieht wie eine Mischung aus Lammkotelett und Lampenladen ... nicht von dieser Welt. Dann der erste Song "Crash on the Levee (down in the Flood)" ... hatte keiner von uns getippt. Die Band ist gut, Dylan ist gut. Besser als auf allen Konzertvideos der letzten Zeit. Aber er spielt kaum Gitarre. Geraune neben mir: Warum? Wieso? Weshalb? "I've just recovered from the flu", sagt Dylan. Ein bißchen sieht er aus wie auf dem Cover von "Highway 61": die Frisur, das Gesicht, das blaue seidige Hemd über der Hose ... nur dreißig Jahre älter. Stephi schreibt die Reihenfolge der Songs mit. Gegen Ende klettert eine blonde Frau auf die Bühne ... und sitzt da so rum, begrabscht Dylans Akustikgitarre und bläst mal kurz in jede Mundharmonika. Unmöglich findet Stephi das, die glaubt wohl, wenn sie mal nach zwei Glühwein "Let it be" auf der Gitarre gezuppelt hat. kann sie hier gleich auf die Bühne... Nach 90 Minuten und "It ain't me, Babe" ist es vorbei. "Kannst aufhörn zu klatschen ... die spielen nicht nochmal". ... die Experten wissen das.
Dann Nachbereitung und Diskussion beim Pivo. Alle waren begeistert, nur Herr Steebe nicht: "Dylan hat zu wenig Gitarre gespielt. Mal abwarten, wie das morgen wird." Ja., sicher, morgen würde Dylan wieder Gitarre spielen, meint Stephi. Er erzählt von seinem älteren Bruder, durch den er auf Dylan gekommen sei. Dann ist Stephi in einen Laden in Köln gegangen und hat dort sämtliche Dylan-Platten auf den Tresen gelegt ... so ein riesiger Stapel war das ... und der Verkäufer hat etwas säuerlich gefragt, ob er die alle anhören wolle ... "Nee, kaufen!" Ich erzähle, daß ich meine erste Dylan-Platte 1965 gekauft habe: "Like a Rolling Stone". Da war Stephi zwei Jahre alt. Irgendwann haben wir genug Pivo ... und auf der Straße zeigt jeder in eine andere Richtung, wo es zum Hotel geht. Hier! ... Nee. hier! ... Quatsch: da! Und ich vertraue mich blind Frau Anders an, die über einen untrüglichen Orientierungssinn verfügt. Ganz abgesehen davon, daß sie überhaupt eine äußerst liebenswerte Person ist. Die anderen latschen willenlos hinterher ... sie sind wieder beim Thema: ob er morgen Gitarre spielt?
Der dritte Tag:
Beim Frühstück gleich die wichtigste Frage: "Welche Songs von gestern spielt er heute nicht? Also 'Watchtower' spielt er auf jeden Fall als drittes ... und 'It ain't me Babe' am Schluß." Stephi zeigt uns Fotos von Dylan, der sich nicht gerne fotografieren läßt: mit Kapuze auf.... Schal um.... und Händen vor dem Kopf. Könnte eigentlich auch jemand anderes sein ... ist aber Dylan. Später, in der Stadt, als aus einer Kirche ein Priester mit Kapuze kommt, ist Stephi kaum zu halten: "Da isser" ... "da isser..." War aber nur ein Priester mit Kapuze.
Wir gingen zum alten jüdischen Friedhof. Da sei Dylan bei seinem letzten Prag-Besuch gewesen. "Hey, das ist doch John Bauldie ... habt ihr gesehen: John Bauldie ist da gerade an uns vorbeigegangen ... der mit der Frau im roten Mantel ... doch das war er ... ganz bestimmt." "Wer?'"... "John Bauldie, der den 'Telegraph' rausgibt ... die beste Zeitung für Dylanologisten." "Ach. wirklich?" sagt Frau Steebe, zischt den beiden hinterher ... und hat sie kurze Zeit später im Schleppnetz. "Pleased to meet you!" Und Stephi erzählt, er habe die Steebes über den "Telegraph" kennengelernt ...und überhaupt und Dylan ... und das Konzert gestern abend ... und daß wir nur hier seien durch die Hilfe des "Telegraphs", von dessen Hotline wir die Tourneedaten abgehört hätten. Das freut John Bauldie.
Dann natürlich die Frage, ob er wisse, warum Dylan so wenig Gitarre gespielt hat? Rückenschmerzen? Nein, das wußte Bauldie auch nicht. Aber das Hemd könne ein Indiz sein: dieses weite Hemd über der Hose habe Dylan das letzte Mal vor etlichen Jahren getragen. Damals hatte er so eine Art Stützkorsett darunter wegen tatsächlicher Rückenschmerzen. Ganz genau allerdings weiß John Bauldie den kompletten Namen des Mädchens, das gestern auf die Bühne geklettert ist: eine Sigrid Soundso aus Deutschland ... 17 Jahre alt. Aha. Und Bauldie und seineBegleiterin wohnen im selben Hotel wie Dylan ... und gestern sei dort ein Telefongespräch für Dylans Bassisten versehentlich zu Bauldies Begleiterin durchgestellt worden ... denn sie heiße Penny. Garnes und der Bassist bekanntlich Toni Garnier ... "Close, isn't it?" ... Toll! Stephi steht mit offenem Mund da. "Ja", sagt Bauldie, "kommt doch nach dem Konzert in die Hotelbar ... die Musiker freuen sich immer, wenn sie jemanden zum Reden haben." Stephi steht mit noch offenerem Mund. "Und gestern war Dylan im Prager Zoo", weiß John Bauldie ... denn er weiß fast alles. Ob er noch Zeit habe für was anderes außer der Dylan-Forschung. frage ich ... "Kaum", sagt er ... "außer Fußball", sagt Penny... "ja, Fußball", sagt er, und demnächst gebe es diesen Gewissenskonflikt: Dylan oder Bolton Wanderers ... die würden nämlich im Cup Final spielen ... am selben Tag, an dem auch Dylan spielt ... und eigentlich habe er sich schon entschieden: "it's got to be the Wanderers. I'm afraid." ... Das klingt wie eine Entschuldigung ... vielleicht weil Stephi so komisch guckt ... erstaunt, entsetzt, ungläubig ... Fußball statt Dylan? Wie heißt der komische Verein? ... Bolton Wanderers ... Nie gehört.
Abends wieder zum Kulturpalast. Die U-Bahn hat einen Affenzahn drauf. Alles scheint zu rasen in Prag: die Metro, die Straßenbahn, die Rolltreppen, die Autos und das Publikum bei Bob Dylan. Diesmal haben wir etwas bessere Plätze. Doch Stephi zieht es ganz nach vorne ... Frau Anders hinterher... gefolgt von Steebes. Vor der offiziellen ersten Reihe waren ein paar zusätzliche Stuhlreihen aufgebaut für geladene Gäste. Presse etc. Dort läßt sich die Reisegruppe Steebe nieder, wie ich durch mein Fernglas beobachten kann. Und die sitzen jetzt tatsächlich vor "Lambchop" ... was den ent-setzlich geärgert haben soll ... und zu Stephis größtem Triumph wurde, wie man später berichtet. Irgendwann soll dann "Lammkotelett" seinen Hut gelüftet haben, und unzählige Federn seien darunter hervorgeflogen ... wie die Daunenfüllung aus einem aufgeplatzten Kopfkissen ... und überhaupt sei dieser "Lambchop" ein ziemlicher Schwachkopf.
Das Konzert wird noch besser als am Vortag. Dylan steht entspannt auf der Bühne, mit nach innen eingeknickten X-Beinen ... Rock'n'Roll-Stil ... und singt sich gefühlvoll durch ein Programm von 14 Songs, die überwiegend aus der Zeit zwischen 1963 und 1968 stammen. Der "elektrische Teil" zeigt eine erstklassige Rhythm and Blues-Band: inspiriert und dynamisch. Höhepunkt ist der "akustische Teil": vier Songs ohne Schlagzeug ... nur Kontrabaß, Dobro, akustische Gitarre, Gesang und Mundharmonika. Und nach "It ain't me. Babe" ist wieder Schluß. Dann rüber ins Hotel mit der ganzen Korona. Ein unbeschreiblich häßlicher Hotelhochhauskasten, der innen noch unwirtlicher wirkt als von außen: glatt, steril, kalt, technisch ... unangenehm ... die Antithese zu einem Dylan-Song. Ein richtiger Schock nach dem Konzert. Ein geschmackloser Alptraum die Bar. Mit Springbrunnen und gelangweiltem Pianisten. An der runden Theke bekommen wir lieblos ein Dosenbier hingeknallt. (Pivo Plech). Vielleicht haben die Kellner auch nur diese ganzen Gestalten satt, die hier rumhängen wegen Dylan. "Lambchop" bestellt einen Cocktail. Ein fetter, etwas schmieriger Engländer klopft Stephi gönnerhaft auf die Schulter: "What diddya think of Bob tonight, then? Mister Tambourine Man? Hahaha ... Great, wasn't it?" Herr Steebe weiß: "Der Typ hat 'ne Konzertvorverkaufsstelle in London. Und mit einem zurückgehaltenem Kontingent Eintrittskarten. geht der abends zu den ausverkauften Veranstaltungen und verlangt horrende Schwarzmarktpreise.
Gegenüber hören sich welche mit Ohrstöpseln einen Konzertmitschnitt von heute abend an. Demnächst als Bootleg. Noch ein Pivo Plech will keiner von uns. Außerdem ist es langweilig hier, ungemütlich und teuer. Also gehen wir. Aber wo ist Stephi? Wir finden ihn in der Eingangshalle. Er hatte rausgefunden, daß Dylan im 19. Stockwerk wohnt. Ganz einfach: "Da war plötzlich Victor Mamudes. ... "Wer?" ... "Na der persönliche Tour-Betreuer von Dylan ... seit 35 Jahren wohnt der immer im Hotelzimmer neben ihm." Experten wissen das. Und dann sei Victor in den Fahrstuhl gestiegen, und Stephi habe auf der Lichtanzeige des Lifts beobachtet, wo er angehalten hat: 19. Stock. Dylan wohnt im 19. Stock. Toll. Und eben seien hier John Jackson, der Gitarrist und Tony Garnier vorbeigekommen. Toll, was? Und der da vorne ... das ist Bucky Baxter, der Steelgitarrist und Dobro-Spieler. Eine unscheinbare Gestalt schlurft Richtung Bar. Wie gut. daß wir Stephi haben. Keiner von uns hätte jemand erkannt.
Der letzte Tag:
Am Morgen macht unsere Reisegruppe einen etwas müden und erschöpften Eindruck Doch die Lebensgeister erwachen schlagartig, als Stephi auf dem Bahnhof eine Zeitung entdeckt ... mit Dylan auf der Titelseite. "He, zeigma, zeigma. zeigma." Pech nur, daß keiner von uns tschechisch kann ... nicht einmal die sprachbegabte Frau Anders. Doch wir sind schon glücklich, als wir zwei Stellen des Artikels verstehen: "Boba Dylana" und "Mr. Tambourine Man." Im Zug vertieft sich Stephi in das Foto und die Frage, was da gerade gespielt wird? Akustische Gitarre. Aha. Und Dylan's Mundbewegung; diese runtergezogenen Mundwinkel. Stephi versucht zu synchronisieren ... formt den Mund nach verschiedenen Texten ... singt. Dann hat er's: "Mister Tambourine Man" ... ganz klar: "and there ain't no place I'm going to." Stephi näselt wie DyIan, und bei "to" zieht er die Mundwinkel runter: "Doch genau, das ist es!" Und Stephi erzählt noch schnell, was er letzte Nacht geträumt hat: Bob Dylan sei mit einer riesigen Kapuze auf dem Kopf über die Karlsbrücke gelaufen ... und Big Jim Callahan, der Sicherheitsmann, immer hinterher.
Während der Zug die Moldau entlangfährt, über die tschechische Grenze, durch Dresden Richtung Berlin, spielen wir Stadt-Land-Fluß ... aber es geht nicht um Städte, Länder, Flüsse ... sondern um Songtitel ... Dylan von A bis Z. Als ich dabei ziemlich versage, ziehe ich es vor, bis Berlin zu schlafen. Morgen müssen wir wieder arbeiten: Frau Anders in der Pharma-Firma, Herr Steebe am Computer ... Frau Steebe muß zu ihren Schülern ... Stephi, der Werkstattleiter, ins Autohaus ... und ich an den Schreib-tisch. Denn eigentlich sind wir ganz seriöse grundsolide Menschen.