Triumph des Täuschers Hinter jeder Enttarnung ein neues Inkognito: Bob Dylan ist wieder auf Tournee
Seine Konzerte sind beständige Glücksspiele. Die Sicherheit der Routine ist ihm ebenso fremd wie die Verläßlichkeit von Liedern. Bob Dylan sucht bei jedem Auftritt jenen einsamen Ton zwischen Vertrauen und Verfremdung, der ihm allin die alten Songs noch erträglich macht. Trifft er ihn, so läßt er sich vorbehaltlos mitreißen in einen Strudel aus Erinnerungen an die Zukunft und Visionen der Vergangenheit.
"Ein Lied gleicht einem nackten Menschen – schutzlos und angreifbar, aber auch voller Möglichkeiten." In den letzten Jahren scherte sich der Spielverderber aus Passion einen Dreck um die Markenbekleidung seiner Songs. Immer wieder zerfetzte er ihre melodischen Schutzhüllen, riß den Stoff auseinander und freute sich allenfalls an groben Webfehlern. Dylan kultivierte genüßlich den Jammer und verliebte sich in Larmoyanz. Zu schwer wog die schmerzliche Einsicht in die prinzipielle Untauglichkeit der Rockmusik für Dichtung von Dauer. Also übte sich der ewige Maskenmann, der hinter jeder Enttarnung ein neues Inkognito bereithält, in der Zertrümmerung der eigenen Geschichte durch rabiate Dekonstruktion. Bisweilen klangen deshalb selbst seine alten Lieder wie eine einzige Kakophonie aus Krächzlauten.
Aus dem Trotz wächst ein neuer Triumph. Der fast Vierundfünfzigjährige demonstrierte im Asschaffenburger Konzert wiedergefundene Weisheit. Zwar huscht auch heute kaum ein Lächeln über das tief eingekerbte Liniengeflecht seines Gesichts, doch der charismatische Sänger lädt ein zur Feier seiner Wiedergeburt. Schon im zweiten Stück des Abends berührt sein Gänsehaut-Gesang unweigerlich das Publikum. Selten hat Dylan seinen "Senor" eindringlicher charakterisiert.. Zärtlich, fast ungläubig staunend, flüstert er sich durch den Text und macht unmißverständlich klar: Es ist dieser einzigartige Tonfall zwischen milder Mitteilung und manischer Beschwörung, der die alten Lieder immer wieder neu erblühen läßt. Wie ein hölzener Harlekin wiegt sich der Sänger selbstvergessen im Takt seiner Leidenschaften. Dabei verzichtet Dylan heute zunehmend auf die umgehängte Alibi-Gitarre. Die Mundharmonika behält er dagegen wie ein Faustpfand bei sich. Sie ist es auch, die mit metallischem Kreischen nicht nur an ein überblasenes Saxophon erinnert, sondern auch zum eigentlichen Medium seiner gezügelten Angriffslust avanciert. Plötzlich spielt sie mit ihren schneidenden Licks gegen den Rhythmus der Band in "Just Like A Woman" an, scheint das Stück seinem unausweichlichen Zerfall preisgeben zu wollen. Erst im letzten Moment fängt.Dylan es zärtlich mit einer melodischen Wendung noch auf.
Glichen frühere Konzerte oft öffentlichen Proben mit einer Band, die sich erst noch einspielen mußte, die sich weder mit Liedanfängen auskannte, noch zu einem schlüssigen Ende fand, so überzeugt Dylans derzeitiges Quartett durch Souveränität. Vor allem die Rhythmusgruppe mit Tony Garnier am Baß und Winston Watson am Schlagzeug erlaubt plötzlich Beschleunigungen in den Songs, abrupte Akzentverschiebungen und verstörende Stops. Vor dieser bestens harmonisierenden Band kann Dylan es sich leisten, seine scheinbare Verschlafenheit an den Tag zu legen. Auf den ersten Blick wirkt er, als sei er mit einem schlimmen Kater zu früh aus dem Bett gefallen. Frische, Fitness und wie all die anderen Ideale der Jugendkultur heute heißen mögen, bei Dylan sucht man solche Zeichen der Lebenslust vergebens.
Seit 1988 vagabundiert er auf einer "Never Ending Tour" rund um den Erdball, durch die drei Dekaden seines Werks. Es gibt nur noch wenige Fixpunkte in seinem Repertoire von mehr als fünfhundert Songs. "All Along The Watchtower" ist fast immer dabei, ebenso "Masters Of War". Diese Antikriegs-Hymne, die er noch vor vier Jahren zum Amüsement des einst verhaßten Militärs in der "West Point"-Akademie vortrug, geriet ihm jetzt zu einem unzerstörbar innigen Bekenntnis.
Der Pedal-Steel-Gitarrist Bucky Baxter zupfte jetzt Mandoline, das sanfte Singen eines Kontrabasses sorgte für eine Atmosphäre neuer Gelassenheit. Zum Höhepunkt des Konzerts geriet eine seltsam verträumte Erinnerung an "Mr. Tambourine Man". Als singe er einem aufgeregten Kind ein Einschlaflied vor, um ihm alle Furchten und Verunsicherung zu nehmen, holte der vormalige Zyniker den Trost, das Moment der Verheißung, in seine Musik zurück.
"Ich sehe, wie ein Licht der Hoffnung mir scheint - von Ost bis West," Diesen Zeilen aus "I Shall Be Released" scheint Dylan wieder neuen Glauben schenken zu wollen. Seine schlampige Melancholie läßt dabei manche Texte noch unverständlichei klingen als früher. Bisweilen funktionieren die Sprechgesänge nur mehr als Klangfarbenmelodien und machen erst so ein Lied identifizierbar. Die schartigen Sätze scheinen aus seinen Mundwinkeln herauszufallen, ohne daß er ihnen noch Nachdrücklichkeit verleihen müßte. Natürlich röchelt, zischelt und grummelt Dylan sich auch heute noch durch sein Oeuvre. Doch die Grundtönung ist trotz all der Fehlfarben seines Gesangs von versöhnlicher Altersmilde bestimmt. Vertrauensbildung - und sei sie noch so hilflos - anstelle öffentlich inszenierter Selbstzerstörung, heißt heute Dylans Devise. Ein behutsames Flehen adelt jetzt die rockenden Reformulierungen von "Like A Rolling Stone" oder "Tangled Up In Blue". Der neuerliche Konstruktionsgedanke scheint zumindest zeitweilig die Zerstörungslust besiegt zu haben. Auch Dylans Ringkämpfe auf dem Griffbrett, wenn er im Mittelteil der Lieder manchmal doch zur Gitarre greift, gehen heute eher zu seinen Gunsten aus. Stolpernde Soli können nicht länger ihren ungelenken Charme verhehlen. Die wiedergewonnene Solidität läßt sogar Dylans optimistische Prognose realistisch erscheinen: "Wer mich noch sehen will, wenn ich neunzig bin, wird mich irgendwo auf der Bühne finden."
PETER KEMPER